Von der Allolalie der Vernunft und der Bilder



Was bedeutet Kunst für uns? Wer sich im Diskurs um Einschätzung und Bewertung von Kunstströmungen behaupten will, kann dieser Frage nicht entkommen, auch wenn man ihr gerne ausweicht, am direktesten wohl durch die Behauptung, Kunst entziehe sich einer gültigen Definition. Nun, wie viele Beschreibungen, wie viele Zugängen zur Kunst gibt es? Wohl so viele, wie es Menschen gibt. Kunst kann so auch in einem gewissen Gegensatz zur Kultur gesehen werden, da Kultur immer den Zusammenhang mit menschlicher Tätigkeit sucht, Kunst – als Teil menschlichen Seins – aber dessen reale Existenz in den Mittelpunkt stellt. Dieser gemeinsame Weg zu einem Ziel hin, auch als dynamischer Prozess einer Weiterentwicklung von Wahrnehmung zu verstehen, verbindet die Menschen über Zeiten hinweg. So relativiert sich der Wahrheitsanspruch von Kunstrichtungen und Kunstströmungen, denn absolute Wahrheit kann es unter diesen Aspekt nicht geben. Der Blick gilt oft nur einem Prisma, einer Facette der Kunst. Goethes Faust spricht es aus: „Was ihr den Geist der Zeiten heißt, das ist im Grunde der Herren eigener Geist, in dem die Zeiten sich spiegeln.“
Wenn aber Kunst wirklich in der Mitte unserer menschlichen Existenz steht und wir die oft bis zur Banalität wiederholte Aussage, der Mensch lebt nicht von Brot allein, auf ihre wahre Bedeutung hin untersuchen, dann ist Kunst nicht Ornament oder Brimborium eines luxuriösen Lebens, sonder stellt den hohen Anspruch wie die Philosophie. Diese hat ihre alte Fragestellungen, woher kommen wir, wohin gehen wir und welchen Sinn hat unser Leben, nie aufgeben. Diese Fragen, die am Anfang auch jeder menschlichen Existenz stehen, werden für Künstler immer ein Korrektiv bleiben, um der Gefahr der Belanglosigkeit zu entgehen. Beliebigkeit und Gleichgültigkeit gelten nicht zufällig als die Totengräber jeder Kunst, da sie deren existenziellen Kern nicht nur in Frage stellen, sondern letztlich negieren. Dies gilt ganz besonders für das damit verbundene Interesse und die Neugierde am Menschen.

Kunst enthüllt Wirklichkeitszusammenhänge, der Betrachter gewinnt – im Idealfall – neue Einsichten und Sichtweisen. Zu welchen Einsichten gelangt der Betrachter bei Ramacher & Einfalt? Verstören ihre Bildinstallationen uns nicht, noch bevor der Verstand in die Tiefe eindringen und sie analysieren kann? „Die postapokalyptische Reise“ lautet die die Vorgabe für ihr Angebot und schon diese Bezeichnung irritiert, „post-„ und nicht „prae-„.  Die manieristische Spätwelt der Renaissance, die Arbeiten von Michelangelo in der römischen Sixtina werden ebenso herangezogen wie barocke Bildzitate, die uns die Fröhlichkeit der Antike, ihre menschliche Götterwelt, aber auch ihr literarisch-künstlerisches Überleben zeigen. Bis auf wenige Ausnahmen ein eklektizistisches Revival aus zweiter Hand, und doch eine Versöhnung der Gegensätze: Antike und Christentum gelang in diesen Jahrhundert die Symbiose. Eine erhebende Tatsache, fern von jedem Pietismus, wie die Freskenfolge barocker Stifte und Schlösser überzeugend demonstriert. Aber diese trunkene, fröhliche Gesellschaft, mal lasziv und sinnlich ein Bacchanale feiernd, mal bloß mit „pomp and circumstance“ den göttlichen Olymp ausstaffierend, diese vertraute Gesellschaft trifft auf Müllhalden technischer Katastrophen, auf ein zivilisatorisches Inferno, dies alles in einer aus der Science-Fiction vertraute Bildsprache. Dazwischen in lederhosiger heimatlicher Nacktheit und Verletzbarkeit die beiden Helden oder, besser gesagt, die beiden Toren: Ramacher & Einfalt.
Illusion nicht als Betrug, sondern als Versatzstück und deutbares Bildsymbol aufgefasst. Die Technik und ihr Ende werden als wertloser Computerabfall denunziert. Bilder, die keine apokalyptischen Reiter notwendig haben, sondern vielleicht nur mehr in rudimentärer Funktion Computertechnik. Reste wie ein Organlager menschlicher Unzulänglichkeiten, für niemanden mehr verfügbar. Und dann die Landschaft: Einsam, mächtig, idyllisch, bukolisch und intakt. Die Postapokalypse hat knapp vor ihrem Ende Halt gemacht. Die Zeitmaschine ist einem Supergau zum Opfer gefallen und hat uns dadurch unser Leben, unsere Phantasie gerettet. Roda-Roda wusste es: „Von jedem umstrittenen Lehrsatz ist auch das Gegenteil wahr.“

Wie tief kann geistige Tiefe gehen? Ramacher & Einfalts Inszenierungen beruhen auf einer säkularisierten Sicht der Dinge. Apokalypse – vom griechischen Begriff apokalypsis: Enthüllung, Offenbarung, und zwar der Ding, die am Ende der Weltzeit geschehen werden. Die Postapokalypse nagt da behutsam am Anspruch der Postmoderne und verwendet dabei aus der apokalyptischen Bildtradition stammende Bildwelten, die die Computerkunst Hollywoods ebenso anbieten kann, wie die anspruchsvolle Gegenwartsliteratur. Denn während in der Literatur meist von der Wirkung des Wortes ausgegangen werden kann, so steht in der Apokalyptik Bild und Gleichnis, das vom Leser erst gedeutet werden muss, im Vordergrund.

Am Anfang war das Bild, das immer auch eine Aussage vermittelt. Und zur Aussage von Ramacher & Einfalt zu gelangen, sind ihre Bildwelten mit für allgemeinen Aussagen in Zusammenhang zu bringen:

1.Kunst setzt ein handwerkliches Können voraus.
2.Kunst nimmt uns in eine andere Lebenswelt mit.
3.Kunst geht immer vom Leben aus.
4.Kunst stellt den Menschen in den Mittelpunkt.
5.Conclusio: Künstler sind die letzten Abenteurer.

ad 1: Beide, Ramacher & Einfalt, entwerfen ihre Bildwelten, Bilder und Skulpturen nicht nur selbst, sondern führen sie auch auf äußerst präzise weise selbst aus. Sie bedienen sich sowohl traditioneller Techniken von der Steinbildhauerei, des besonders an die alten Mythen der Schmiede erinnernden Bronzegusses bis zum kunstvollen Zusammenstellen von Raumskulpturen und ihren Veränderungen durch das Verstellen der Sinnzusammenhänge. Dem Berechnen durch moderne Hilfsmittel wie Computer, wird ebenso viel Platz eingeräumt wie dem intuitiven Handeln und dem kalkulierten Experiment. Der handwerklichen Umsetzung geben Ramacher & Einfalt, einen bedeutenden Stellenwert. So wird Technik, nach der griechischen Bedeutung téchne – Kunst, Kunstfertigkeit, nie zum Selbstzweck.

 ad 2: Kunst wirft Fragen auf. Die Antworten liefert aber nicht der Künstler, da es individuell so viele Antworten wie ernsthafte Betrachter gibt. Es ist nicht auszuschließen, dass im Kopf des Betrachters etwas völlig anderes vorgeht als in der Vorstellung des Künstlers. Das eigentliche Ereignis findet immer im Kopf statt. Egal, ob der Künstler etwas hineinlegt oder herausnimmt, letztlich bleibt immer nur das, was wir als Rezipienten wollen. Ramacher & Einfalt liefern uns die Bausteine einer Freiheit für nur von uns gewollte Assoziationen. Nicht wir blicken auf ihre Kunstwelten, sondern das Werk spricht unvermittelt zu uns.

 ad 3: Kunst ist dem Leben verbunden. Ramacher & Einfalt erleben den Menschen als geschichtliches Wesen. Erinnerung ist Leben, nur so wird Geschichte zur geistigen Werkstatt der Gegenwart. Erinnerung kann trügen und neue Konfrontationen gebären, trotzdem, die bisweilen blutleeren, collagemäßig platzierten Götter haben eine Geschichte. Eine Sterblichkeit und eine Geschlechtlichkeit. Sie verführen, lieben und begleiten den Betrachter, der so wiederum Ramacher & Einfalt in nachdenklicher und distanzierter Weise erlebt. Passiv abwartend, am Sprung, sich doch noch am Orgiastischen zu beteiligen oder, von einer Höhe aus in die Ferne blickend, die fleischlichen und materiellen Versuchungen zu überschauen oder abzuwehren. Eine Entscheidung ist nicht in Sicht.

 ad 4: Immer wieder legen uns Ramacher & Einfalt Fallstricke aus. Sie umkreisen die menschliche Befindlichkeit; nicht das Ideal ist ihr Ziel, sondern die Frage, was ist der Mensch? In ihren Inszenierungen kontrastieren sie in auffallender Weise Bildzitate klassischer Heroen und der olympischen Schönheit antiker Götter mit ihren eigenen Unzulänglichkeiten und Austriazismen. Das Gute, Wahre und Schöne ist nur Teil des menschlichen Seins, es bestimmt uns nur im idealen Licht der Aufklärung. Der ganze Mensch aber, den Ramacher & Einfalt samt seiner fiktiven Geschichte vorstellen, kennt auch den zerstörten Menschen, das Abartige und Böse, die Vernichtung und vor allem die Akzeptanz dieser dunklen Seiten des menschlichen Daseins als Faktum. Sie umkreisen immer wieder des Menschen Hoffnung und Scheitern und gewinnen so für sich und für uns eine Quelle nie versiegender Möglichkeiten.

ad 5: Gibt es heute noch Entdeckungen, Konquistadoren, die unbekannte Länder und Reiche für sich entdecken, auf Schatzsuche in ferne Kontinente aufbrechen und mit Misstrauen wie Marco Polo der Übertreibung und des Prahlens geziehen werden? Ramacher & Einfalt führen uns vor, wohin unsere Entdeckungsreisen gehen können. In jene Innenwelten gedachter Wirklichkeiten, in denen der Romantiker Novalis erschreckend klar und präzise eine Gegenwart erkennt: „Wir träumen von Reisen durchs Weltall, ist denn das Weltall nicht in uns ? Die Tiefen des Geistes kennen wir nicht. Nach Innen geht der geheimnisvolle Weg. In uns oder nirgends ist die Ewigkeit mit ihren Welten, die Vergangenheit und Zukunft.“ Novalis als Prophet von Ramacher & Einfalt. Sich auf Kunst einzulassen, ist eine Sache, deren Innenwirkung zuzulassen, eine andere.

Die beiden Künstler entführen uns in traumatische Bildwelten. Oft sinnlos, wie sinnentleert, das letzte Weinglas leerend, ein Schirm ohne Schutz, die Trophäe eines Bockes, apotropäisch als Schutz gegen Unbill. In kaum einem anderen Land als Österreich ist das kompromisslose Selbstbeobachten des eigenen Körpers, seiner Hinfälligkeit und seiner Reaktionen darauf so ausgeprägt. Unter dieser Hülle, der Haut des Menschen, liegt das Unauslotbare. Unter die Haut gehen auch die Bilder von Ramacher & Einfalt – für den, der sich in ihnen verfängt und stolpernd seinen Verstand zu Fall bringt, werden alle Gedanken durcheinandergewirbelt.

Die den Bildern vorgesetzten Schiffsrümpfe und Schiffskonstrukte lassen ihre gedankliche und materielle Entstehung nachvollziehen. Die Flächen der Schiffshaut geben der Konstruktion erst das Volumen, deren Vergoldung zu einer Metapher ungezählter Erinnerungen wird. Die langen Ahnenfolge mittelalterlicher Bilder mit sakralen Goldgrund und die vielen vergoldeten Barockfiguren erheben den Anspruch transzendierenden Lichtes. Ein Leuchten, das sich im Wiedererkennen eines göttlichen Augenblickes ereignet. Gold kann Miniaturen in Handschriften kostbar rahmen und völlig säkularisiert einen Gebrauchsgegenstand aus dem Alltag herausheben. Wenn Ramacher & Einfalt ihre Lederhosen vergolden, so ist auf ironische Weise dem Spiel vor dem verlockenden Kult der Vorrang gegeben. Ja geradezu ein Protest gegen die materielle Verkultung, die Ausbeutung und Kommerzialisierung unserer Ressourcen von Natur und Volkskultur. Ein von den Künstlern inszeniertes Spiel, die Lebensbarke, die zum Totenschiff mutiert, zu vergolden. Was bleibt, ist Erinnerung. Hose und Schuhe als letztes Leichentuch. Ein Foto ihrer Schuhe am Totenschiff persifliert das individuelle Erkennen der Totenbilder, die im alten Ägypten den Verstorbenen auf ihre letzte Reise mitgegeben wurden. Im spielerischen Aneignen zeigen sich die Grenzen der Kunst auf. Im Sinne Friedrich Schillers, der in seinen Schriften zur ästhetischen Erziehung der Menschen zum Schluss kommt: „Der Mensch spielt nur, wo er in voller Bedeutung Mensch ist, und er ist nur da ganz Mensch, wo er spielt.“ Auch Ramacher & Einfalt setzen voll auf unsere spielerische Neugier. Diese Weite auch ausloten und Grenzen überschreiten, kann nur derjenige, der sie kennt und um sie weiß. Kunst kann da Leben nicht ersetzen.

So liegen wir ähnlich wie die Hauptfiguren auf einem Totenschiff, dessen Reise unser Leben ist. Eingefallene Häute ohne viel Fleisch, aber doch mit Körper, wie alte Körperwelten. Das Steuerruder teilt kein Wasser, sondern Luft. Wohin geht die Überfahrt? Unsere Gedanken sind wie Raupen, die später als Schmetterlinge in einem neuen Leben aufgehen. So wird das Kleine groß und das Große überschaubar. Auch Gedanken und Vorstellungen können vergehen, sich verändern und dadurch unsterblich sein. Ramacher & Einfalts Gedanken werden so „reanimierungsfähig“.  Sie geben dem Auge durch ihre Bilder und Bildinstallationen jene Sicherheit des Erkennens, das der Verstand von Anfang an als Ungewissheit und Illusion erkennt. Geist und Materie stehen dabei stellvertretend für unvereinbare Lebenskonzepte. Was aber, wenn von Anfang an der Geist in der Materie wirkt? Ramacher & Einfalt haben listiger Weise psychoanalytische Codierungen im Reisegepäck, der Unterschied freilich liegt in der Methode. Ähnlich gehen Archäologen vor, wenn sie die verschiedenen Schichten menschlicher und konkret individueller Geschichte frei legen. Die Methode der Psychoanalyse ist allerdings das Gespräch. Bilder verstellen in diesem Zusammenhang bisweilen den Blick oder lösen beim Betrachter jeweils andere Assoziationen aus. Nicht das Bild an sich ist es, das die Künstler uns vermitteln wollen, sondern einen künstlerischen – psychologischen Prozess, den ihre Bildwelten beim Betrachter auslösen.

Ramacher & Einfalt verstören noch immer viele Zeitgenossen. Plakativ, ironisch und nicht selten mit einer das Innerste unserer Erwartungen anrührenden Gebärde und Posse inszenieren sie Weltuntergänge. Nehmen uns mit auf eine Zeitreise des Schreckens, die vorstellbar und denkbar eine Realität entfaltet und doch letztlich merkwürdig statisch am sichtbaren Abgrund verweilen lässt.  Österreichisch an diesen Vorgang ist vielleicht die Lust, Unzusammenhängendes als Kontinuum zu erleben, die Ungleichzeitigkeit auf eine höhere Ebene einer nie einzulösenden Moral zu verbannen. Erst dadurch, mit den Mitteln eines theatrum mundi , gelingt es ihnen, die Moral zu retten. Wie kleine Kinder, die nicht glauben können, dass den Dingen eine gewisse Endlichkeit gegeben ist. Der Sündenfall ist noch nicht eingetreten, des Menschen Weg kann sich noch ändern, die Schlinge um den Hals ist noch nicht zugezogen. Ihre Bilderwelt lebt von dem, was nicht explizit dargestellt ist. Weil es ein Gedanke und ein Wunsch zugleich ist. Nicht fassbar, von einer Generation auf die nächste hüpfend und weitergebend. Die Hoffnung nicht nur auf das menschliche Überleben, sondern vielmehr auf das Überleben des Humanen.

Wie eine Allolalie – ein Sprechen in unzusammenhängenden Gedanken und Wortbildern, im ursprünglichen Sinn „anders sprechen“ – aussieht, gewinnt in der distanzierten und seriellen Betrachtung eine der zeitlichen Vernunft zwar entzogene Bedeutung, durch neue Wertungen ergeben sich aber überraschende Zusammenhänge. Ramacher & Einfalt sind Wanderer in den Zeiten, Abenteurer der Sinne. Ihre Bildinstallationen oszillieren in den verschiedenen Lichter alter Feuer. Vergangene längst hinab gesunkene Erfahrungen und unbedacht auch spontane Einfälle. Sie geben uns dem Betrachter, eine wertvolle Erkenntnis, die nicht an der Oberfläche des Dargestellten und spekulativer Assoziationsketten zu finden ist. Dennoch bleibt ein Rest von Misstrauen, voller Ironie und Lust. Diesem Verstehen auf der Spur ist wohl derjenige, der erkennt, dass Kunst sich nicht in erster Linie dadurch vorwärts bewegt, dass ganz neue Gedanken auftauchen, sondern dadurch, dass mit alten Gedanken eine ganz neue Wahrhaftigkeit entsteht.

„Anderseits die Phantastik“ Imaginäre Welten in Kunst und Alltagskultur, Oberösterreichisches Landesmuseum, Verlag Bibliothek der Provinz